„We are totally fucked, aren’t we?“ stand am Anfang der „Inspirational Keynote“ von Martin Zierold beim stARTcamp Hamburg meets HOOU (Hamburg Open Online University) an diesem Freitag, dem 6. September 2019. Besser gesagt, der saloppe Ausruf war das augenzwinkernde Resümee des „depressiven Teils“ der Keynote, die schließlich mit einem deutlich freundlicheren Ausblick auf die Dinge endete. Das Zeichen der Zeit, so Zierold, sei, dass sich Kultur und Wissenschaft in der gegenwärtigen Gesellschaft in einer ernsten Krise befänden. Als Indiz dafür führt er das prominente Zitat von Michael Gove an, der mit Blick auf die englische Bevölkerung 2016 konstatierte: „I think people in Britain have enough of experts.“ (Interview with Faisal Islam on Sky News, 3. Juni, 2016. https://en.wikiquote.org/wiki/Michael_Gove, ausführliche Referenz siehe unten)

Die Abkehr von Experten und die weitverbreitete Kritik an den bestehenden Verhältnissen ist in Anbetracht komplexer ökologischer, politischer, ökonomischer und sozialer Probleme, die oft so gar nicht unter Kontrolle scheinen, ein verstörender Befund, so Zierold. Wer, wenn nicht Experten sollen Antworten finden auf die Herausforderungen der Gegenwart? Jedenfalls darf man die hemdsärmelige Verweigerung von Expertise durchaus mit Aufmerksamkeit betrachten. Die Frage, so Zieroldt, die man sich darüber hinaus stellen könne, sei eben auch, welchen Anteil jeder von uns an den Krisen der Gegenwart habe.

Angesichts dieses eher düsteren Tableaus stellte Zieroldt dann die konstruktive Frage: Wie würde es aussehen, wenn meine Organisation eine Ressource für die Stadtgesellschaft wäre? Dazu zitiert er das Beispiel der Lyoner Oper, die mit einer breit angelegten Outreach-Strategie in ein intimes Verhältnis mit der Stadtgesellschaft getreten sei. So lässt sich schließlich die Frage formulieren – was kann jede/r Einzelne von uns dafür tun, die Krisen der Gegenwart zu bewältigen? Welche Rolle, so wurde im Anschluss an die wache Keynote gefragt und diskutiert, spielt dabei die Digitalisierung? Ist sie Teil des Problems, oder Teil der Lösung? Mit einer derart ins Konkrete gewendeten akademischen Perspektive auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der Digitalisierung hatte die Veranstaltung dann einen erfreulich starken Resonanzraum, der dann auch in den einzelnen Sessions nachklang.

Vielleicht handelt es sich, wie Zieroldt es darstellte, bei der Digitalisierung tatsächlich um nichts weniger als eine epochale Revolution, ähnlich dem Buchdruck – mit weitreichenden Folgen, die wir heute noch lange nicht absehen können? Ähnlich wie bei Guttenbergs bahnbrechender Erfindung könne man vermuten, dass künftige Generationen rückblickend die Digitalisierung als prägendes Ereignis in die Geschichtsbücher aufnehmen würden. Die Digitalisierung sei in so vieler Hinsicht ein offener und noch längst nicht abgeschlossener Prozess, den es zu gestalten gelte.
Diesem Ziel – also der Frage danach, wie der digitale Wandel gewinnbringend in den Institutionen realisiert werden kann, widmete sich die gesamte Ausgabe dieser stARTconference. Ihrer Agenda gemäß wollte die Veranstaltung Vertreter aus Bildung und Wissenschaft, aus der Kreativ- und Kunstszene, aus Hochschule und Kultur an einen Tisch bringen und die Frage stellen, wie sich Lebensgewohnheiten durch die Digitalisierung ändern und wie möglichst viele Menschen durch die Arbeitsergebnisse der Institutionen erreicht werden könnten. Und in der Tat war es ein bunter Haufen, der da zusammenkam. In der Tradition der stARTkonferenzen wurde das Programm gleich zu Beginn der Veranstaltung in offener Diskussion gestaltet – Themen aus dem Plenum vorgeschlagen und das Interesse des (sehr aktiven) Publikums per Handzeichen erfragt. Lang geplante Vorträge mischten sich so mit offenen Workshops, Diskussionsrunden und spontan entwickelten Sessions (so schlug ein Schulpraktikant an der Staatsbibliothek HH vor, der Frage nachzugehen, wie digitale Techniken die Zukunft der Schulen verändern könnten – und ob Lehrer dann noch gebraucht würden).

In den Sessions wurden zahlreiche, sehr unterschiedliche Themen präsentiert und diskutiert. Von Fragen des Urheberrechts und die Verwendung von CC Lizenzen erstreckte sich das Spektrum der Themen über Podcasting, das Spiel als Methode, Musik und Inklusion, ethische Fragen, die Kommunikation mit Jugendlichen bis hin zu Projekten, die Beispiele für Augmented und Virtual Reality präsentierten. Die Stärke der Veranstaltung war dabei gleichzeitig ihre Schwäche. Zwar gibt es die Möglichkeit individuelle Schwerpunkte zu setzen und sich mit Teilnehmerinnen auszutauschen, aber man leidet eben auch unter der Qual der Wahl und am Ende verpasst jede/r Teilnehmer/in einen nennenswerten Teil der Veranstaltungen. Dies tut der Qualität der Veranstaltung an sich aber keinen Abbruch.
Zuletzt ein besonderes Highlight, das mit Blick auf die Vermittlungsarbeit in Museum und Gedenkstätten diskutiert wurde. Zum Thema „Digitale Realitäten an Gedenkorten“ präsentierte Dr. Iris Groschek von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eine ganze Reihe von digitalen Referenzprojekten und verschaffte den Teilnehmerinnen dieser Session ein sehr lebendiges Bild davon, wie digitale Mittel die pädagogische Arbeit in Gedenkstätten bereichern können. Daber stelle sich aber immer auch die Frage nach der Angemessenheit.

Die offene Diskussion drehte sich dann unter anderem darum, wo die Grenzen digitaler Rekonstruktion, bzw. Inszenierung des Vergangenen zu verorten seien und in welchem Maß eine Emotionalisierung beispielsweise dem Thema Holocaust angemessen sei. Die offene Frage nach dem Verhältnis zwischen emotionaler und rationaler Verarbeitung historischen Wissens stand im Raum, genau wie die Frage, wie virtuell Erinnerung in Zeiten von Deepfakes überhaupt sein darf. Denn in dem Maße, in dem digitale Informationen durch das Potential von Bildmanipulationen oder durch die Möglichkeit von Deepfakes an Glaubwürdigkeit verlieren, gerät auch die historische Überlieferung in eine prekäre Lage. Große Fragen, die wenigstens für Momente auch die inneren Konflikte im Umgang mit den vielfältigen digitalen Vermittlungswerkzeugen sichtbar werden ließen. Wohl auch aus diesem Grund hätte dieser Workshop noch deutlich länger sein können, als die kurz angesetzten 45 Minuten. „No limits?“ – sicher nicht, aber die Diskussion um die Grenzen der digitalen Möglichkeiten erlaubt auch immer Einblicke in die Chancen der Digitalisierung, gerade mit Blick auf jene Themen, die für eine lebendige Erinnerungskultur von so großem Wert sind. Mit Blick auf die Verfassung unserer Gesellschaft wird das Einflusspotential digitaler Kanäle besonders deutlich. Dieses Potential, so der Tenor der Veranstaltung, gilt es zu nutzen.

___
Michael Gove im Interview mit Faisal Islam, am 3. Juni 2016 auf Sky News:
„Gove: I think the people in this country have had enough of experts, with organizations from acronyms, saying—
Interviewer: They’ve had enough of experts? The people have had enough of experts? What do you mean by that?
Gove: People from organizations with acronyms saying that they know what is best and getting it consistently wrong.
Interviewer: The people of this country have had enough of experts?
Gove: Because these people are the same ones who got consistently wrong what was happening.
Interviewer: This is proper Trump politics this, isn’t it?
Gove: No it’s actually a faith in the—
Inteviewer: It’s Oxbridge Trump. Gove: It’s a faith, Faisal, in the British people to make the right decision.“
Quelle: https://en.wikiquote.org/wiki/Michael_Gov (zuletzt besucht 9.9.19)